Ausdehnungen, Verspielungen

Ausstellung Galerie Heike Schumacher, Überlingen

Samstag, 2. April 2011

Ralf Bittner: Ausdehnungen, Verspielungen. Neue Fotoarbeiten.


Mein Computer weiß Bescheid. Den Begriff „Ausdehnung“ akzeptiert er so halbwegs, den Begriff „Verspielung“ nicht. Da kommt ein roter Strich drunter und es folgt die freundliche Bitte, doch ein anderes Wort zu suchen, das dem Rechtschreibprogramm bekannt ist. Da Ralf Bittner mir aber böse ist, wenn ich seinen Begriff einfach abändere, nur weil der im digitalen Wortvorrat nicht vorkommt, habe ich versucht, „Verspielung“ meinem Computer zu erklären. Davon profitieren Sie jetzt, zumal ich dem PC auch beigebracht habe, dass „Ausdehnung“ mehr bedeuten kann als das Aufblasen eines Luftballons.

Ja, wo ist denn hier das Foto, kann man sich fragen. Und überhaupt: ein Medium, dazu gedacht, die reale Welt festzuhalten, also das, was (vermeintlich) vorhanden ist, wozu wird das übermalt?

Der Schriftsteller Botho Strauss hat sich vor rund vier Jahren einmal mit der Frage beschäftigt, ob und wie Malerei und Fotografie Gegensätze seien. Er hat sich dabei mit Begriffspaaren wie „Bild oder Abbild“, „Bewahrung oder Zerstörung“ beschäftigt, und er kam darauf, dass solche Gegensätze gar nicht existieren. Sie häten historisch betrachtet, nur dazu gedient, das Wunder der Fotografie nicht mit dem Wunder der Malerei zu verwechseln. Es gebe freilich schon Unterschiede und die bemerke man am besten, wenn man ein Foto übermale. Das Foto nannte er eine „gelähmte Szene“, den Akt des Übermalens nannte er „fremde Wetter“. Er sagte: „ Der merkwürdige Effekt entsteht, dass ausgerechnet der Akt der Kunst, also die Bemalung des Fotos, einer Natureinwirkung gleichkommt. Wie fremde Wetter fallen Formen und Farben über die gelähmte Szene, die häusliche Ansicht aus dem Album her“.

Die Gedanken von Strauss orientierten sich damals an Gerhard Richters Übermalungen. Beispielsweise an jenem berühmten Stammheim-Zyklus, bei dem Richter Fotovorlagen der RAF-Häftlinge verwendete. Dabei kam es ihm auf eine emotionslose Übersetzung banaler Zeitungs- oder Amateurfotos an. Das Fehlen der Emotion sollte dafür sorgen, sich erst gar nicht auf einen Gegensatz zweier Medien, also des Fotos und der Malerei, ein zu lassen und sich darin fest zu fressen. Richter ging noch einen Schritt weiter, indem er schließlich das Foto als Vorlage oder Malgrund gar nicht mehr benutzte, sondern gleich so malte, als liege unter seiner Malerei ein Foto. Als gutes Beispiel dafür gilt eine Arbeit von Richter aus dem Jahr 1966, als er seine Frau Marianne, genannt Ema, in einem großformatigen Aktbild malte. Richter schlug vor, dass man den emotionslosen Schnappschuss des Amateurfotos doch gar nicht brauche, um ein Bild zu schaffen, das (Zitat Richter) „nichts von der Seele, von dem Wesen oder dem Charakter“ der Fotounterlage in die Übermalung hinübertragen solle.

Gleichwohl brachte Richter eine Maltechnik ins Spiel, die aus der analogen Fotographie schon bekannt war, die Unschärfe. Das Phänomen der technischen Unvollkommenheit, übertragen in die Malerei als Wischtechnik. Das verwackelte Analog-Foto, nachgeahmt mit einem weichen Pinsel in die Übermalung, das galt Richter als besonders authentisch und dann eben – jedenfalls nach seinem Verständnis – auch als allgemein gültig.

In den Arbeiten von Ralf Bittner finden wir das Foto als Vorlage ebenso. Aber Bittner hat einen völlig anderen Ansatz. Er benützt nicht irgendwelche Fotovorlagen. Seine Fotos sind bewusst ausgewählt, abfotografiert und bereits ein Teil des künstlerischen Herstellungsprozesses. Die bewusste Auswahl bei Bittner steht dem Richterschen Ansatz des zufällig ausgewählten Fotos völlig diametral gegenüber. Bei Ralf Bittner beginnt mit der Auswahl des Fotos, auch wenn es (in Anführungszeichen) „nur“ den Malgrund bildet (im wahrsten Sinn des Wortes), bereits der Startpunkt in eine, besser gesagt in seine Auseinandersetzung.

Auseinandersetzung: nun nicht im vorhin erwähnten Gegensatzpaar Foto versus Malerei, sondern an ganz anderer Stelle. Nehmen wir die Arbeit Nr. 1. Man erkennt ein Portrait von Mao Tse Tung.

Mao
Toter Pharao

Es ist ein durchaus bekanntes Portrait. Es stammt von Andy Warhol. Warhol reproduzierte seine Arbeiten bekanntlich bis ins Unendliche, er wollte damit die Künstlichkeit der Konsumkultur offen legen. – Und er unterlag ihr zugleich selbst in der Schwemme der verkauften Reproduktionen.

Da beginnen die Gedanken von Ralf Bittner. Er hat das Portrait analog fotografiert und lässt es auf eine Metallplatte (Alucobond heißt das Material) drucken. Mit seiner Übermalung beginnt er eine kritische Auseinandersetzung mit dem Werk Warhols, das heute ja fast nur noch auf seinen Konsumcharakter reduziert ist. Hier finden sich Bittners kritische Überzeugungen, Meinungen, Gedanken zum Werk von Andy Warhol. Bittner bezeichnet diese Arbeiten als „Kunst über Kunst“. Inhaltliche und formale Versuche der Auseinandersetzung mit vorhandener Kunst, die er verfremdet, verwischt, überarbeitet, übermalt oder im Sinne einer malerischen Kritik „korrigiert“. Das unendlich oft reproduzierbare Foto bildet die Malunterlage, die Übermalung setzt der Reproduktion aber ein Ende. Mit der Übermalung eines Warhol-Bildes setzt Ralf Bittner einer unendlich oft reprozierbaren Kunstware ein Ende. Aus dem Warhol – Produkt wird ein Bittner-Unikat.

Und so ist der Titel der Ausstellung auch gemeint: Ausdehnung und Verspielung. Dabei muss es nicht immer ein kritischer Ansatz sein, wie im Fall Warhol. Das kann auch Bewunderung sein, der Versuch, sich einem Werk eines Malerkollegen näher zu kommen, wie etwa der Nr. 5 der Verkaufsliste. Hier geht es um Anselm Kiefer. Kiefer gilt auch unter Kollegen als diskussionswürdig. Ralf Bittner will mehr über ihn wissen, indem er mit der Vorlage spielt, sie verfremdet und sich damit von ihr entfernt und sie wieder heranholt, indem er sie durchscheinend sichtbar lässt. Dabei nutzt er Kiefers Technik, der ja auch mit Versatzstücken arbeitet, also mit Ausdehnungen und Verspielungen, um ein Geflecht von Assoziationen und Hinweisen zu schaffen. Dazu gehört bei Kiefer auch die Beschäftigung mit Paul Celan und einem seiner bekannten Gedichte, der „Todesfuge“. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ ist daraus die wohl bekannteste Textzeile, die wiederum Kiefer zu einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus brachte. Das würde jetzt alles viel zu weit führen, aber am Ende von Celans Todesfuge ist die Zeile zu lesen „Dein goldenes Haar Margarete“.

Anselm Kiefer
Margaretes Haar (Bruder Anselm)

Und die finden Sie nun wiederum auf Bittners Bild, eine Textbrücke zwischen ihm, Kiefer, und ihm, Bittner. Und ein Beleg, wie Bittner sein Ziel, Kunst über Kunst zu machen, verfolgt.

Allerdings gilt dann auch für die hier ausgestellten Arbeiten: um Bittners Werk zu entdecken und zu entschlüsseln, braucht es eine gewisse Bereitschaft des Betrachters, sich der Fülle an Inhalt überhaupt zu stellen. Man kommt nicht umhin, das Gespräch mit dem Künstler zu suchen und ich meine, dass selten einmal eine Ausstellung so ausdrücklich zur Kommunikation mit dem Künstler auffordert.

Ralf Bittner betreibt ein durchaus kompliziertes Vexierspiel des Davor und Dahinter, wie etwa bei einem Foto von Romy Schneider, der Nr. 6. Eine Frau, die sich nicht gerne offenbarte, die ihre Persönlichkeit hinter einem Bild versteckte, das die Presse von ihr gezeichnet hatte. Das sind Überlegungen von Ralf Bittner, wenn er die Vorlagen übermalt, manchmal übrigens so weit, dass vom ursprünglichen fotografisch angelegten Malgrund gar nichts mehr zu sehen ist. Nur er, der Künstler weiß dann noch, was sich dahinter verbirgt. Versuchen Sie es einmal bei Bild Nr. 6 („balance“).

In einer Laudatio zu einer Ausstellung von Arbeiten Ralf Bittners 2004 – da ging es allerdings um andere Arbeiten – hieß es, der Betrachter werde „animiert oder sogar provoziert, um die hier übermalten, verborgenen Inhalte dechiffrieren zu können“. Das ist ein Gedanke, der das Werk Bittners, so meine ich, generell durchzieht.

Was sehen wir, was wollen wir sehen, was wird uns gezeigt, was wird uns erlaubt zu sehen?

In den Ausdehnungen und Verspielungen zeigt sich der Versuch, Bekanntes zu verformen und zu entfremden, es dennoch wiedererkennbar zu machen, aber dann auf einer anderen Ebene der Erkenntnis. Nicht wie eingangs beschrieben bei Gerhard Richter, der ein zufälliges Foto zufällig übermalt, um das Ergebnis sehr bewusst als banales Kunstprodukt zu hinterlassen. Sondern, und das ist nun Bittners Weg, aus einem Grundgedanken der Kritik, der Bewunderung, des Interesses, der Neugier ein Foto zu schaffen, verwischt und bewegt und damit schon entfremdet, um dann mit der Übermalung sein eigenes Gespür, seinen eigenen Eindruck darüber zu legen, darüber auszubreiten und sich klar zu werden, wie er, der Künstler selbst Kunst sieht.

Folgerichtig dann natürlich auch – die eigene Kunst. Also eigene ältere Arbeiten wieder herauszusuchen und sie dem gleichen Prozess des Ausdehnens und Verspielens auszusetzen. Ausdehnen in dem Sinne, den Sinngehalt eines Bildes durch Überarbeitung zu erweitern, Verspielen in dem Sinne, denn lustvollen Charakter des künstlerischen Tuns nicht zu verbergen. Das empfinde ich besonders bei der Nr. 2 („a speed contest“), wo das „Ausdehnen“ ganz gezielt als Stilmittel eingesetzt wird. Übrigens ließe sich an diesem Bild auch wunderbar über das Phänomen „Zeit“ in der Darstellung sprechen, jenes Phänomen, das in der Wissenschaft als Zeitdehnung oder „Zeitdilatation“ bekannt ist. Das würde hier aber zu weit führen.

Dem Betrachter macht es Bittner damit freilich nicht leicht. Man mag den Zugang über das ästhetische Empfinden suchen. Den Zugang über die Frage also, was gefällt und was gefällt nicht. Aber Bittner zwingt schon, sich in das Bild hinein zu denken, nach dem Dahinter oder Darunter zu suchen, die Schichten aufzudecken und zu entblättern.

Manchmal liefert Ralf Bittner zusätzliche Zeichen, kalligraphische Malerei als Teil des Bildes.

zeit
lang ist die zeit

Es ist nicht immer eindeutig, ob diese Buchstaben beim Entschlüsseln helfen oder eher verwirren. Auch das ist ein Teil des „Verspielens“, indem ein altbekanntes Alphabet in eine andere Ebene darüber ausgedehnt und verspielt wird.

Verspielung und Ausdehnung: bei Ralf Bittner erscheint sie mir als Montage aus Gegenständlichkeit (das Foto) und Abstraktion (die Übermalung). Genau dazwischen, würde es sich hier um Texte handeln, würde man sagen: „zwischen den Zeilen“, liegen die Überlegungen und Gedanken von Ralf Bittner, so als ob man zwischen zwei Schichten eine Lage Seidenpapier legt. Und dennoch ist nichts Trennendes dazwischen, sondern eine Koexistenz zwischen Malgrund und Übermalung, eine Zusammengehörigkeit oder Einheit im Werk. So malt Bittner eigentlich sich selbst in den ausgewählten Malgrund hinein. Hinein in eine Kombination, die Vorlage und Malerei unzertrennlich werden lässt.

Ich möchte mit einem Zitat von Botho Strauss zu Ende kommen.

Die Übermalung einer Bildvorlage kann eine anarchische Gebärde sein, ein Kontern. Sie kann aber auch ein magischer Akt sein (…) Das Foto raubt die Seele. Die Übermalung macht das rückgängig“.

Ich danke für Ihre Geduld.

Thomas Warndorf